Herr Peick, Sie betreuen für ka-news den
Prognosemarkt zur Karlsruher Oberbürgermeisterwahl. Wer
hat hier denn aktuell die Nase vorn?
Derzeit liegt der gemeinsame Kandidat von SPD, Grünen und
KAL, Frank Mentrup, deutlich vorne. Aber dies ist
lediglich eine Momentaufnahme. Wenn auch eine mit Bestand.
Dennoch - völlig ausschließen möchte ich es nicht - könnte
sich die Reihenfolge innerhalb der kommenden zwei Wochen
noch entscheidend ändern.
Wahlergebnisse per fiktivem Aktienmarkt
vorherzusagen klingt zunächst nach einer reichlich
komischen Idee. Wie funktioniert das?
Manch einer soll angeblich sogar mutmaßen, es könnte ein
wenig Zauberei oder gar Voodoo mit im Spiel sein ... Nein,
im Ernst: Alles, was auf einer Wahlbörse passiert, ist
nachvollziehbar und logisch erklärbar. Zwei Dinge greifen
dabei ineinander: Die sogenannte Schwarm-Intelligenz und
die Mechanismen eines realen Börsenmarktes.
Das klingt jetzt erstmal reichlich abstrakt ...
Wir alle kennen den Glaskasten im Einkaufszentrum, der mit
Tennisbällen oder anderen identischen Gegenständen gefüllt
ist. Der einzelne Kunde ist aufgefordert abzuschätzen, wie
viele Bälle sich insgesamt hinter dem Glas befinden. Wer
der richtigen Anzahl am Nächsten kommt, gewinnt einen -
nicht selten lukrativen - Preis. Ich selbst mag mich dabei
weit verschätzen, nach oben oder unten, egal, aber in
Summe liegen alle Mitwirkenden im Durchschnitt ganz eng am
korrekten Wert.
Ein Experiment, dass übrigens jeder ohne große
Vorbereitungen im Kleinen selbst durchführen kann: Stellen
Sie bei Ihrer nächsten Party einfach ein verschlossenes,
großes Glas auf den Tisch, Rand gefüllt mit vielen bunten
Smarties oder M&Ms, und lassen Sie Ihre Gäste die Anzahl
der Schokokügelchen schätzen. Das Endergebnis könnte Sie
verblüffen. Und Sie hätten unfreiwillig den Beweis dafür
erbracht, dass Wahlbörsen im Gegensatz zu herkömmlichen
Umfragen weder eine Repräsentativität noch eine besonders
hohe Anzahl von Teilnehmern benötigen, um eine vernünftige
Prognose abzuliefern. Wahlbörsen mit lediglich 50 Personen
funktionieren genauso gut wie Börsen mit 500 Teilnehmern,
sie sind nur weniger attraktiv.
Und der zweite Mechanismus?
Der zweite Mechanismus, der bei einer Wahlbörse greift,
ist das Urprinzip jeder Börse. Der Preis einer Aktie wird
durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Erscheint mir etwas
billig, kaufe ich, ist eine Aktie überbewertet, verkaufe
ich. Dabei habe ich stets im Hinterkopf, Gewinn zu machen
und mein Portfolio zu optimieren.
Gibt es außer der Oberbürgermeisterwahl in
Karlsruhe noch mehr Wahlen, die per Aktienhandel
vorhergesagt werden?
Ja, auf der
Prognoseplattform Wahlfieber werden von einer eifrigen
Community-Wahlbörsen zu fast allen Wahlen im
deutschsprachigen Raum und im europäischen Ausland
durchgeführt. Nicht zuletzt auch zu den verschiedenen
Wahlen in den USA Anfang des Monats. Übrigens: Auf alle
Märkte, die ich eben angeführt habe, können auch die
ka-news Leser zugreifen. Sie verbergen sich in der oberen
Navigationsleiste hinter "Weitere
Märkte".
Spekuliert wurde unter anderem auch auf die
US-Präsidentschaftswahl. War der klare Wahlsieg von
Barack Obama für die Wahlbörsianer eine Überraschung?
Ganz im Gegenteil! Wir sind alle sehr entspannt in die
lange Wahlnacht gegangen. Die entscheidende Frage auf
Wahlfieber lautete nicht: Gewinnt Obama? Sondern: Wie hoch
gewinnt Obama? Sein klarer Sieg stand nie in Abrede. Auch
nicht nach dem für Obama eher schwachen ersten Rededuell
mit Romney.
Es verwundert mich an dieser Stelle aber die
Ahnungslosigkeit der deutschen Medien, leider auch der
Öffentlich-Rechtlichen. Ich frage mich: Kann es angehen,
dass einige wenige Wahlfieber-User nicht zum ersten Mal
US-Wahlen im Vorfelde korrekt analysieren, während viele
Medien ihren Zuschauern über Wochen ein Kopf-an-Kopf
Rennen prophezeiten? Die Fehleinschätzungen bezüglich der
USA haben in Deutschland hingegen beinahe schon System.
Denn auch bei den Vorwahlen kündeten die Medien am Abend
oder tags zuvor mitunter von Favoriten, die in derselben
Nacht haushoch verloren. Ganz eindeutig in Bezug auf den
Wahlausgang waren für jedermann verfügbare amerikanische
Quellen wie der
Blog von Nate Silver auf der New York Times-Webseite
oder die
Wahlbörse Intrade. Und nicht zuletzt
Wahlfieber.
Der Markt zur Karlsruher OB-Wahl ist für jeden
offen. Wie viel Fachwissen braucht man, um hier mit zu
handeln?
Um Grunde genommen keines. Aber wie bei vielen Dingen im
Leben, ist Wissen auch an einer Wahlbörse nie schädlich.
Wissen zum Beispiel im Sinne von Information, die wiederum
durch Handeln in die Börse einfließt.
Ich nenne Ihnen ein Beispiel: Stadtteil X kämpft seit
Jahren mit einem speziellen, noch ungelösten Problem, das
viele Menschen bewegt. Die zwei Fragen, die sich ein
Händler nun stellt, sind: Welchem Kandidaten nützt dies?
Welchem Kandidaten könnte dies eher schaden?
Je nachdem, wie er die Fragen beantwortet, greift er,
mit seinem Informationsvorsprung, ins Wahlbörsengeschehen
ein. Dabei sollte er allerdings eines immer beachten: Eine
Wahlbörse ist kein Wunschkonzert, sondern ein durchaus
ernsthaftes Prognoseinstrument. Hier geht es nicht darum,
was ich mir persönlich wünsche, sondern was ich real
erwarte.
Auch den von mir persönlich
favorisierten Kandidaten nach oben zu pushen, bringt nur
wenig. Es ruiniert im schlimmsten Fall mein Konto, und die
Mitspieler freuen sich über leichte, risikolose Gewinne.
Die Kurse der Kandidaten im Karlsruher Markt
sind ständig in Bewegung, in den Kurven der Aktien von
Frank Mentrup und Ingo Wellenreuther gibt es sogar
deutliche Dellen, wo der Kurs mal um fünf, sechs
Prozentpunkte nach unten oder oben abgewichen ist. Wie
kommt sowas?
Größere Kurschwankungen spiegeln häufig Unsicherheit
wieder. Ein solches Phänomen tritt wiederholt bei
Wahlbörsen auf, auf denen nicht Parteien, sondern Personen
gehandelt werden. Der Wert einer Partei lässt sich für
einen Händler oft leichter ermitteln als das Ergebnis
einer Person.
Denn: Ich habe bei einer
Personenwahl kaum Vergleichsmöglichkeiten. Das Ergebnis
der letzten OB-Wahl ist zum Beispiel nur von geringem
Informationswert, da damals andere Personen kandidierten.
Ebenso die Ergebnisse aller anderen Wahlen, da unter
anderem davon auszugehen ist, dass die Wähler bei einer
Persönlichkeitswahl weniger partei- oder lagergebunden
denken und auch zunehmend bereit sind, ihr Kreuz bei einem
Kandidaten zu machen, dessen Partei sie sonst niemals
wählen würden. Dies immer richtig einzuschätzen ist nicht
leicht. Nicht nur Wahlbörsen tun sich daher schwerer,
einen Trend wieder zu geben oder eine exakte Prognose zu
erstellen - auch die herkömmlichen Meinungsumfragen.
Die Anhänger der Kandidaten oder sogar die
Kandidaten selbst haben ein Interesse daran, auf dem
virtuellen Marktplatz möglichst gut da zu stehen. Wie
verhindern Sie, dass der Markt bewusst manipuliert wird?
Zunächst: Verkennen Sie den Markt nicht! Die meisten
Angelegenheiten regelt er nämlich selbst. Wenn
beispielsweise eine Aktie manipuliert wird - unter
Manipulation verstehe ich an der Stelle auch das hoch oder
runter Jagen einer Aktie um mehrere Prozentpunkte - sind
sofort andere Händler zur Stelle, um Gewinnmitnahmen zu
realisieren.
Nichtsdestotrotz: Ich vertraue nicht unbedingt den
freien Kräften des Marktes. In der Virtualität nicht und
in der Realität sowieso nicht. Auch deswegen werden von
uns in regelmäßigen Abständen alle Handelsaktivitäten
überprüft und die Userdaten miteinander verglichen. Dafür
stehen uns - nach über einem Jahrzehnt - Wahlbörsenpraxis
diverse Tools zur Verfügung, die ständig erweitert werden.
Denn die Tricks, die einige wenige User versuchen, sind
vielfältig. Unsere Tools sind in den allermeisten Fällen
jedoch besser. Nebenbei bemerkt: Wer schummelt oder
manipuliert, fliegt. Ohne Vorwarnung!
Und was kein Tool leisten kann, gleicht notfalls die
persönliche Erfahrung aus. Ich selbst habe jahrelang auf
Wahlbörsen, salopp formuliert, gezockt, bevor ich dieses
Hobby zum Beruf gemacht habe. Ich weiß daher sehr genau,
dass man Wahlbörsen auch manipulieren kann, aber ich weiß
ebenso genau, wie man dieses als Betreiber klar und
rechtzeitig unterbindet. Und zum Glück verfügt Wahlfieber
zusätzlich über eine Community, deren Heavy Usern kaum ein
Manipulationsversuch entgeht. Die sind manchmal schneller
als ich.
Karlsruhe wählt am 2. Dezember seinen nächsten
Oberbürgermeister, wie nah liegen denn die
Markt-Vorhersagen ihrer Erfahrung nach am tatsächlichen
Ergebnis?
Ich denke, wir bilden derzeit einen Trend oder eine
Erwartung ab, noch keine exakte Prognose. Wie
beispielsweise für die USA. Warum? Kommunale Wahlen sind,
wie bereits erwähnt, schwer zu prognostizieren. Sie sind
nur von begrenztem regionalen Interesse und die
Informationen, die man über sie im Netz findet, sind oft,
anders als bei bedeutenden überregionalen Wahlen, rar
gesät. Vielfältige Informationen sind aber Voraussetzung
dafür, dass sich der Wahlbörsianer eine möglichst genaue
Meinung bilden kann, die er anschließend durch Käufe oder
Verkäufe in den Markt einbringt. Das ist übrigens eine
weitere Erklärung für die Kurssprünge, über die wir eben
sprachen.
Ich setze daher bei kommunalen Wahlbörsen andere
Qualitätsmaßstäbe an als beispielsweise für Börsen zu
Bundestags- oder Landtagswahlen. Dort wäre ein
Abweichungsfehler von zwei oder drei Prozentpunkten
eindeutig eine schlechte Prognose, kommunal läge ein
derartiger Fehler hingegen im mittleren Rahmen. Dies
schmälert keineswegs die Qualität oder die Notwendigkeit
von solchen Wahlbörsen. Denn oft sind sie der einzige
Orientierungspunkt für den Wähler, da es nur selten
Umfragen gibt.
Welche Erfahrungen haben Sie denn bei anderen
kommunalen Wahlen gemacht?
Wir haben im letzten Jahr die nationalen Wahlen in der
Schweiz mit dem auch Wahlfieber zugrunde liegendem
Produkt Pro:Kons prognostiziert, in Kooperation mit
dem Schweizer Fernsehen. Zur Freude der schweizer
Meinungsforscher haben wir es dabei gewagt, absolutes
Neuland zu betreten, und versucht, die Wahlen in den
einzelnen Kantonen, sowohl für den Nationalrat als auch
für den Ständerrat abzubilden, Bei letzterem handelt es
sich wie einer OB-Wahl um eine reine Personenwahl. Auch
die kleineren, unbedeutenden Kantone wie Uri oder
Appenzell, blieben von unseren Wahlbörsen nicht verschont.
Kantone, in die sich vermutlich noch nie ein
Meinungsforscher getraut hat. Man hat uns allgemein ein
Scheitern vorhergesagt. Am Ende war das Gegenteil der
Fall.
Jeweils 50 bis 200 Usern - nur etwa zur Hälfte
Schweizer - ist es geglückt, selbst für Kantone, deren
Wahlen keinerlei Echo in den Medien fanden, eine insgesamt
sehr respektable Prognose aufzustellen. Spätestens seit
letztem Herbst bewegt sich daher das Instrument Wahlbörse
in der Schweiz auf gleicher Augenhöhe mit den
konventionellen Meinungsumfragen. Und die eidgenössischen
Forscher haben erkannt, dass Wahlbörsen Bereiche abdecken
können, die für Meinungsumfragen völlig ungeeignet
erscheinen. Wie beispielsweise kleinere regionale oder
kommunale Wahlen.
Fragen: Felix Neubüser